Weihnachten. Jedes Jahr ein Ereignis zum geniessen, feiern aber vor allem um zu träumen.
Ann und der Hirtenjunge
Ann freut sich auf Weihnachten. Sie kann es kaum noch erwarten, die Weihnachtsgeschenke auszupacken. Ihre Eltern machen zwar ein Geheimnis daraus, was sie geschenkt bekommt. Doch Ann wiess ganz genau, dass sie das bekommt, was sie auf ihren Wunschzettel geschrieben hat. Das war die vergangenen Jahre so, das wird auch dieses Jahr so sein. Nur eins gefällt ihr überhaupt nicht. Jedes Mal muss sie abwarten, bis ihre Eltern – nein Entschuldigung – ihre Grossmutter die Weihnachtsgeschichte vorgelesen hat. Jedes Jahr die gleiche Geschichte, findet Ann. Sie kann sie fast auswendig. Trotzdem ist sie aufgeregt, als sie ins Bett geht. Wie wird wohl Weihnachten dieses Jahr? – denkt sie. Sie legt sich in Bett und schläft überraschend schnell ein. Alles Mögliche scheint ihr durch den Kopf zu gehen. Plötzlich steht ein Junge vor ihr. Er ist genauso alt wie Ann, aber er scheint nicht aus unserem Zeitalter zu kommen. Denn er trägt Kleider aus Ziegenhaut und Sandalen. «Warum trägst Du keine Nike-Schuhe und warum hast Du kein Handy?», fragt Ann den Jungen neugierig. «Nike-Schuhe», wiederholt der Junge verwirrt. «Ich weiss nicht, wovon Du redest. Hier bei uns in Betlehem tragen alle Kinder selbstgemachte Sandalen und Kleider aus Ziegenhaut». «Warum hier in Betlehem?, lautet die nächste Frage von Ann. «Wir sind doch hier in Zürich! Bist Du ein Flüchtlingskind?» «Ich verstehe zwar überhaupt nicht, wovon Du redest. Aber meine Aufgabe ist es, Dich abzuholen und Dich zu begleiten», sagt der Junge mit einer stoischen Ruhe. Er wundert sich zwar über die merkwürdigen Aussagen von Ann, er lässt sich trotzdem Nichts anmerken. «Ich kenne Dich doch gar nicht und wer schickt Dich, mich abzuholen?» - Anns Ton klingt sehr misstrauisch. Sie möchte sich in ihre Bettdecke einkuscheln, da merkt sie, dass sie gar nicht in ihrem Bett liegt. Sie sitzt auf einem grossen Stein mitten auf einer weiten Ebene. Überall befinden sich Schafe und Ziegen.
Zwischen den Tieren sieht sie Feuer brennen. «Wo bin ich hier?, fragt Ann ungläubig. «Und wer bist Du?». «Mein Name ist David!», sagt der Junge und ergreift die Hand von Ann und schon läuft er los. Ann läuft ihm wohl oder übel hinterher. Denn allein hier zurückbleiben möchte sie nicht. Jetzt erst bemerkt sie auch, dass es dunkel ist und David eine Laterne in seiner Hand trägt. Sie laufen über eine Weide. «Irgendwie sieht es hier exotisch aus» - denkt sich Ann. Bevor sie David nur eine Frage stellen kann, stehen sie vor einem Stall – nein, es ist eher ein offener Unterstand. Um sie herum ist es auf einmal taghell, obwohl nirgends eine Lampe oder Laterne brennt. Ann sieht sich nochmals um. Weitere Personen stehen mit ihnen vor dem Unterstand.
Jetzt hält es Ann nicht mehr aus und es platzt aus ihr heraus: «Um Himmelswillen sag mir endlich, wo wir sind und was die vielen Leute hier machen?» «Zwar verstehe ich nicht, warum Du mich das alles fragst. Denn jeder und jede hier um uns weiss, dass wir hier vor den Toren Betlehems bei unseren Herden sind», führt David aus und lächelt Ann an. Ann ist plötzlich entspannt und lächelt zurück. «Ich heisse übrigens Ann», sagt sie zu David. «Das weiss ich bereits», erwidert David. Bevor Ann nur einen weiteren Mucks tun kann, drängt sich David mit ihr durch die Menschenmenge hindurch und beide stehen vor einer Futterkrippe. In der Krippe liegt ein neugeborenes Kind, die jungen Eltern strahlen beide vor Glück. David öffnet seine Umhängetasche und nimmt einen kleinen Käse heraus und überreicht ihn den Eltern. Die Mutter nimmt den Käse entgegen und umarmt David dankbar. «Warum sind wir hier?», wiederholt Ann. «Du stellst Fragen», antwortet David ungläubig. «Wir sind hier, weil heute Nacht der Erlöser der Welt geboren wurde. Dieses kleine Kind ist die Erfüllung all unserer Hoffnungen». Das kleine Kind öffnet die Augen und lächelt Ann entgegen und Ann spürt eine grosse Freude in ihrem Herzen.
Ann möchte David noch eine Frage stellen, doch plötzlich hört sie ihre Mutter rufen: «Aufstehen Du Schlafmütze! Es ist Heiligabend. Es gibt viel zu tun, bis Oma und Opa kommen und wir gemeinsam Weihnachten feiern könne». «Ich freue mich so auf die Weihnachtsgeschichte», ruft Ann ihrer Mutter entgegen, springt aus dem Bett und rennt Richtung Bad. «Seit wann freust Du Dich auf die Weihnachtsgeschichte?», fragt die Mutter mit einem grossen Stauen im Gesicht. «Das verrate ich nicht», sagt Ann und verschwindet im Bad. «Was mag bloss geschehen sein? Ich habe Ann noch nie so glücklich gesehen!», murmelt die Mutter in sich hinein und geht in die Küche.